Mit meinen beiden Begleitern bin ich seit Einbruch der Dunkelheit unterwegs in den Vierteln, wo man als Ausländer oder privilegierter Bürger nicht allzu willkommen ist. So begleiten uns denn immer wieder aggressive Aufforderungen gefälligst zu verschwinden. Nur der Tatsache, daß meine Begleiter und ich "gute" Bekanntschaften in diesen Vierteln haben, ist es zu verdanken, daß wir noch heil sind.
Warum gingen wir in diese Viertel? Um mit Prostituierten ins Gespräch zu kommen wäre es weitaus einfacher in die Gegend der Hotels zu gehen, z.B. zum "Torre de Cali", in die Querstraßen vom "Hotel Intercontinental" , an die "Avenida sexta"...
Wir wollen jedoch nicht mit diesen privilegierten Huren plaudern, denen geht es noch relativ gut, die haben eine finanzkräftige Kundschaft. Ein großer Teil davon sind alleinreisende Herren aus den USA und Europa, die in irgend einem einschlägigen Magazin gelesen haben, daß Cali die Stadt mit den schönsten Frauen Südamerikas sei und die schnelle, käufliche Liebe die westliche Brieftasche kaum belastet. Diese Edelhuren haben kaum Probleme des Überlebens, höchstens mit ihrem Zuhälter, ihrem ewig sturz besoffenen und unter Kokain stehenden Partner.
Wir sind auf der Suche nach "Pilar", einem 13-jährigen, kaffeebraunen Mädchen mit großen traurigen Augen, welches sich wie seine nur einwenig ältere Schwester seit 1½ Jahren prostituieren muß, damit der blinde und gehbehinderte Opa, die seit Jahren kranke Großmutter, die arbeitslosen Eltern und einige noch jüngere Geschwister überleben können.
Ich lernte "Pilar" vor etwa einem Jahr kennen. Das war an der "sexta" im "Don Jaime". Da saß sie mit einem Europäer der kaum ein Wort spanisch konnte und trank eine Cola. Da ich nur einige Tische weiter saß, kam der Europäer zu mir und fragte, ob ich übersetzen könne. Er war ein Endvierziger aus Norddeutschland, mit einer gutgehenden Anwaltskanzlei, der bereits zum dritten mal "Sexurlaub" hier in Cali machte, weil er hier keine Strafverfolgung wegen Unzucht mit Minderjährigen gäbe. Nachdem er vor mir (europäisches Aussehen in der Fremde scheint zu verbinden) geprahlt hat, wie und was er am liebsten mit diesen Kindern mag, habe ich "Pilar" den Vorschlag gemacht mit mir einen Hamburger bei "Presto" essen zu gehen. Sie hatte jedoch angst, zwar mit vollem Magen aber ohne Geld nach Hause zu gehen und so schlug ich ihr vor, sie erzähle mir aus ihrem Leben und ich würde sie dafür bezahlen, wie es die Männer tun, die wild auf "unschuldiges Fleisch" sind. Seit dieser Zeit treffen wir uns öfters zufällig im Barrio "San Nicolas" wo sie arbeitet.
Inzwischen sind wir in diesem Viertel angelangt und gehen in einen ungepflegten und schmutzigen Spielautomatensalon, wo Mädchen jeglichen Alters auf Kundschaft warten und sich die Wartezeit mit dem Automatenspiel oder plaudern verkürzen. Da sitzt "Pilar" alleine an einem Tisch und versucht den Ekel vor sich selbst und die Schuldgefühle mit "Basuco"(südam. Form des Crack) zu betäuben. Keines der anderen Mädchen möchte in ihrer Nähe sein, denn "Pilars" Gesicht ist verunstaltet durch drei frisch genähte tiefe Wunden. Weil sie sich vor einigen Wochen auf dem Nachhauseweg gegen eine Vergewaltigung wehrte, hat sie der Typ mit seiner Machete gräßlich gezeichnet fürs Leben. Seit da hat sie es auch zu Hause schwer, denn nun ist kaum mehr ein finanzkräftiger Freier bereit für "Pilar" gut zu bezahlen, und so verkauft sie ihren knabenhaften Körper bereits für einen "Basuco"-Rausch. So fing ihre Karriere auch an, der Vater verkaufte seine Töchter an seine freunde für einen "Basuco"-Rausch. Er war immer ein gern gesehener Gast bei den Männerfesten im Viertel, da er jeweils eine der Töchter mitnahm und mit gönnerhafter Geste dieser besoffenen Männerrunde zur Verfügung stellte um sie fürs Gewerbe hart zu machen. denn wer Hunger hat, hat keine Zeit an seine Moral zu denken, das sei etwas für die Reichen und nicht für die, die froh sein müssen, wenn sie ihren Säuglingen und Kindern die Hungerschmerzen mit "Basuco" lindern können.
"Pilar" ist froh uns zu sehen und Gesellschaft zu haben und erzählt uns über die Mädchen, die an den Automaten spielen oder sich angeregt unterhalten.
"...Schau "mono"(Ansprache für hellhäutige Menschen), hier findest du kein einziges Mädchen, welches nicht täglich seinen "Basuco" Konsum braucht. Einige wie Beatric, welche dort mit den zwei Männern verhandelt, hat damit angefangen, um sich so das Geld für die Schule zu verdienen. Immer nach der Schule, noch in der uniform, kam sie her um mit einem freier irgendwohin zu fahren. Anfänglich hat sie es für ein paar Pesos gemacht, heute da sie das Geschäft kennt und weit herum das schönste Mädchen ist, erzielt sie die besten Preise. Ein "gringo" wollte sie letztes Jahr mit nach Miami nehmen, doch irgendwas hat mit dem Visum nicht geklappt, ich glaube, weil sie erst 14 wahr. Nun hofft sie, daß der "gringo" bald wieder kommt und es dann klappt.
Die meisten hier fangen um 3 Uhr nachmittags an und machen durch bis 5 Uhr morgens. In diesen 14 bis 15 Stunden haben wir etwa 20 Männer und verdienen so um die 20 000 Pesos pro Tag. Davon bezahlen wir 4 500 Pesos Zimmermiete täglich. mit dem Rest des Geldes zahlen wir Schutzgeld an Polizisten usw. wenn diese nicht mit unserem Körper bezahlt werden wollen, kaufen Kleider, essen. Das meiste Geld jedoch benötigen wir für dieses gottverdammte "Basuco". Ohne dieses Gift halst du deinen verschmutzten und verkauften Körper doch gar nicht aus, da jagen sich die Gedanken, du möchtest dich am liebsten umbringen. Denn kaum eine von uns hat irgend eine bessere Zukunft vor sich.
Wir enden doch alle gleich, irgendwann wird jede von uns von so einem Schwein umgelegt, oder dann von der "mana negra" (paramilitärische Gruppe). Deshalb brauche ich "Basuco", ohne "Basuco" habe ich Angst, Angst vor mir, vor allen und allem. Und voll mit "Basuco" erträgst du auch die Männer leichter, die dir manchmal furchtbar weh tun. Manchmal, da bete ich zu Gott er möge mir helfen, doch DER Gott ist nicht für uns, für den sind wir Scheiße wie für den Rest der Welt. Ich möchte raus hier, doch ohne Geld kann ich nicht in die Rehabilitation, und wenn ich es hätte, die würden mich kaum aufnehmen. Wir sind geprägt, gezeichnet, verdammt da weiter zu vegetieren wo wir sind, denn uns braucht man ja so wie wir sind, ohne Rechte, immer verfügbar.
Ich erschrecke, bin betroffen ob der Stimme wie dies "Pilar" sagt. Es ist nicht die Stimme des 13-jährigen Mädchens das mit seinen tiefen, großen, traurigen Augen vor mir sitzt. Es ist die Stimme einer reifen, vom Leben zutiefst gebeutelten und geknechteten Frau, für die es nicht mehr tiefer gehen kann. Dieses 13-jährige Mädchen, dessen Unschuld auf der Straße starb hat alle unvorstellbaren schrecken und Tiefen erlebt. Doch "Pilar" ist kein Einzelfall, es ist der Alltag der Menschen die in der „olla" leben. Der Menschen, für die es keine Rechte gibt, der Menschen, die immer ein wenig mehr als die privilegierte Minderheit bezahlen muß, der Menschen, die bei den sog. "Sozialen Säuberungen" mit dem Tode bezahlen.
Der jüngere Bruder "Pilars" kommt seine Schwester abholen und ich stecke ihr schnell 5000- Pesos in die Tasche, damit sie u Hause keine Prügel bezieht. Ich tue dies unbemerkt, denn "Pilar" ist zu stolz um ohne Gegenleistung etwas anzunehmen. denn das Leben hat sie gelehrt, "FÜR NICHTS GIBT ES NICHTS"!
Als wir auf der Straße stehen, bittet "Pilar" Mitglieder der Jugendbande "Los bacanes", und bis zur "quinta"(5. Straße) hoch zu begleiten. Wir sind froh um diesen Schutz, denn mittlerweile ist es weit nach Mitternacht und die Chance heil aus diesem brodelnden Pulverfaß von Leben und Gewalt zu kommen ist nicht besonders hoch. Während wir Richtung "quinta" gehen, lausche ich dem Salsa, der immer leiser wird und vom Alltag erzählt, denke an diesen norddeutschen Endvierziger mit seiner gutgehenden Anwaltspraxis, der stellvertretend für viele herhalten muß. Fast wünschte ich, er wäre jetzt hier, alleine in diesem von Gott und der Welt vergessenen Viertel.
Die Jungs die uns begleiten singen den Salsa weiter, der lief als wir aufbrachen:
Oigo el llanto que atraviesa el espacio
Para llegar a Dios.
Es el llanto de los niños que sufren
Y lloran de terror.
Es el llanto de las madres que tiemblan
Con desesperación.
Es el llanto,
Es el llanto de Dios.
Violencia, maldita violencia,
?Por qué te empeñas en teñir de sangre
La tierra de Dios?
?Por qué no dejas que en el campo nazca
Nueva floración?
Violencia, ¿por qué no permites que reine la pay,
que reine el amor,
Que puedan los niños dormir en su cuna
Sonriendo de amor?
Violencia ¿por qué no permites que reine la pay?
Es el llanto de Dios,
Es el llanto de Dios.
Es el llanto de una madre
Porque su hijo perdió.
Es el llanto del Supremo
Que en el calvario murió.
Si no existiera la violencia
Todo sería mejor,
Llora como lloró
Nadie debe de llorar...
¡Violencia! ¡Violencia!
¡Violencia! ¡Violencia!
Tú que todo lo destruzes,
Anda z dime la rayón.
Es el llanto del Supremo
Porqué su pueblo perdió.Es el llanto del Señor,
Es el llanto del Señor.
Llora como el lloró,
Nadie debe de llorar.