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7. Mai 2008 3 07 /05 /Mai /2008 14:21

Mit meinen beiden Begleitern bin ich seit Einbruch der Dunkelheit unterwegs in den Vierteln, wo man als Ausländer oder privilegierter Bürger nicht allzu willkommen ist. So begleiten uns denn immer wieder aggressive Aufforderungen gefälligst zu verschwinden. Nur der Tatsache, daß meine Begleiter und ich "gute" Bekanntschaften in diesen Vierteln haben, ist es zu verdanken, daß wir noch heil sind.

 

Warum gingen wir in diese Viertel? Um mit Prostituierten ins Gespräch zu kommen wäre es weitaus einfacher in die Gegend der Hotels zu gehen, z.B. zum "Torre de Cali", in die Querstraßen vom "Hotel Intercontinental" , an die "Avenida sexta"...

 

Wir wollen jedoch nicht mit diesen privilegierten Huren plaudern, denen geht es noch relativ gut, die haben eine finanzkräftige Kundschaft. Ein großer Teil davon sind alleinreisende Herren aus den USA und Europa, die in irgend einem einschlägigen Magazin gelesen haben, daß Cali die Stadt mit den schönsten Frauen Südamerikas sei und die schnelle, käufliche Liebe die westliche Brieftasche kaum belastet. Diese Edelhuren haben kaum Probleme des Überlebens, höchstens mit ihrem Zuhälter, ihrem ewig sturz besoffenen und unter Kokain stehenden Partner.

 

Wir sind auf der Suche nach "Pilar", einem 13-jährigen, kaffeebraunen Mädchen mit großen traurigen Augen, welches sich wie seine nur einwenig ältere Schwester seit 1½ Jahren prostituieren muß, damit der blinde und gehbehinderte Opa, die seit Jahren kranke Großmutter, die arbeitslosen Eltern und einige noch jüngere Geschwister überleben können.

 

Ich lernte "Pilar" vor etwa einem Jahr kennen. Das war an der "sexta" im "Don Jaime". Da saß sie mit einem Europäer der kaum ein Wort spanisch konnte und trank eine Cola. Da ich nur einige Tische weiter saß, kam der Europäer zu mir und fragte, ob ich übersetzen könne. Er war ein Endvierziger aus Norddeutschland, mit einer gutgehenden Anwaltskanzlei, der bereits zum dritten mal "Sexurlaub" hier in Cali machte, weil er hier keine Strafverfolgung wegen Unzucht mit Minderjährigen gäbe. Nachdem er vor mir (europäisches Aussehen in der Fremde scheint zu verbinden) geprahlt hat, wie und was er am liebsten mit diesen Kindern mag, habe ich "Pilar" den Vorschlag gemacht mit mir einen Hamburger bei "Presto" essen zu gehen. Sie hatte jedoch angst, zwar mit vollem Magen aber ohne Geld nach Hause zu gehen und so schlug ich ihr vor, sie erzähle mir aus ihrem Leben und ich würde sie dafür bezahlen, wie es die Männer tun, die wild auf "unschuldiges Fleisch" sind. Seit dieser Zeit treffen wir uns öfters zufällig im Barrio "San Nicolas" wo sie arbeitet.

 

Inzwischen sind wir in diesem Viertel angelangt und gehen in einen ungepflegten und schmutzigen Spielautomatensalon, wo Mädchen jeglichen Alters auf Kundschaft warten und sich die Wartezeit mit dem Automatenspiel oder plaudern verkürzen. Da sitzt "Pilar" alleine an einem Tisch und versucht den Ekel vor sich selbst und die Schuldgefühle mit "Basuco"(südam. Form des Crack) zu betäuben. Keines der anderen Mädchen möchte in ihrer Nähe sein, denn "Pilars" Gesicht ist verunstaltet durch drei frisch genähte tiefe Wunden. Weil sie sich vor einigen Wochen auf dem Nachhauseweg gegen eine Vergewaltigung wehrte, hat sie der Typ mit seiner Machete gräßlich gezeichnet fürs Leben. Seit da hat sie es auch zu Hause schwer, denn nun ist kaum mehr ein finanzkräftiger Freier bereit für "Pilar" gut zu bezahlen, und so verkauft sie ihren knabenhaften Körper bereits für einen "Basuco"-Rausch. So fing ihre Karriere auch an, der Vater verkaufte seine Töchter an seine freunde für einen "Basuco"-Rausch. Er war immer ein gern gesehener Gast bei den Männerfesten im Viertel, da er jeweils eine der Töchter mitnahm und mit gönnerhafter Geste dieser besoffenen Männerrunde zur Verfügung stellte um sie fürs Gewerbe hart zu machen. denn wer Hunger hat, hat keine Zeit an seine Moral zu denken, das sei etwas für die Reichen und nicht für die, die froh sein müssen, wenn sie ihren Säuglingen und Kindern die Hungerschmerzen mit "Basuco" lindern können.

 

"Pilar" ist froh uns zu sehen und Gesellschaft zu haben und erzählt uns über die Mädchen, die an den Automaten spielen oder sich angeregt unterhalten.

 

"...Schau "mono"(Ansprache für hellhäutige Menschen), hier findest du kein einziges Mädchen, welches nicht täglich seinen "Basuco" Konsum braucht. Einige wie Beatric, welche dort mit den zwei Männern verhandelt, hat damit angefangen, um sich so das Geld für die Schule zu verdienen. Immer nach der Schule, noch in der uniform, kam sie her um mit einem freier irgendwohin zu fahren. Anfänglich hat sie es für ein paar Pesos gemacht, heute da sie das Geschäft kennt und weit herum das schönste Mädchen ist, erzielt sie die besten Preise. Ein "gringo" wollte sie letztes Jahr mit nach Miami nehmen, doch irgendwas hat mit dem Visum nicht geklappt, ich glaube, weil sie erst 14 wahr. Nun hofft sie, daß der "gringo" bald wieder kommt und es dann klappt.

 

Die meisten hier fangen um 3 Uhr nachmittags an und machen durch bis 5 Uhr morgens. In diesen 14 bis 15 Stunden haben wir etwa 20 Männer und verdienen so um die 20 000 Pesos pro Tag. Davon bezahlen wir 4 500 Pesos Zimmermiete täglich. mit dem Rest des Geldes zahlen wir Schutzgeld an Polizisten usw. wenn diese nicht mit unserem Körper bezahlt werden wollen, kaufen Kleider, essen. Das meiste Geld jedoch benötigen wir für dieses gottverdammte "Basuco". Ohne dieses Gift halst du deinen verschmutzten und verkauften Körper doch gar nicht aus, da jagen sich die Gedanken, du möchtest dich am liebsten umbringen. Denn kaum eine von uns hat irgend eine bessere Zukunft vor sich.

 

Wir enden doch alle gleich, irgendwann wird jede von uns von so einem Schwein umgelegt, oder dann von der "mana negra" (paramilitärische Gruppe). Deshalb brauche ich "Basuco", ohne "Basuco" habe ich Angst, Angst vor mir, vor allen und allem. Und voll mit "Basuco" erträgst du auch die Männer leichter, die dir manchmal furchtbar weh tun. Manchmal, da bete ich zu Gott er möge mir helfen, doch DER Gott ist nicht für uns, für den sind wir Scheiße wie für den Rest der Welt. Ich möchte raus hier, doch ohne Geld kann ich nicht in die Rehabilitation, und wenn ich es hätte, die würden mich kaum aufnehmen. Wir sind geprägt, gezeichnet, verdammt da weiter zu vegetieren wo wir sind, denn uns braucht man ja so wie wir sind, ohne Rechte, immer verfügbar.

 

Ich erschrecke, bin betroffen ob der Stimme wie dies "Pilar" sagt. Es ist nicht die Stimme des 13-jährigen Mädchens das mit seinen tiefen, großen, traurigen Augen vor mir sitzt. Es ist die Stimme einer reifen, vom Leben zutiefst gebeutelten und geknechteten Frau, für die es nicht mehr tiefer gehen kann. Dieses 13-jährige Mädchen, dessen Unschuld auf der Straße starb hat alle unvorstellbaren schrecken und Tiefen erlebt. Doch "Pilar" ist kein Einzelfall, es ist der Alltag der Menschen die in der „olla" leben. Der Menschen, für die es keine Rechte gibt, der Menschen, die immer ein wenig mehr als die privilegierte Minderheit bezahlen muß, der Menschen, die bei den sog. "Sozialen Säuberungen" mit dem Tode bezahlen.

 

Der jüngere Bruder "Pilars" kommt seine Schwester abholen und ich stecke ihr schnell 5000- Pesos in die Tasche, damit sie u Hause keine Prügel bezieht. Ich tue dies unbemerkt, denn "Pilar" ist zu stolz um ohne Gegenleistung etwas anzunehmen. denn das Leben hat sie gelehrt, "FÜR NICHTS GIBT ES NICHTS"!

 

Als wir auf der Straße stehen, bittet "Pilar" Mitglieder der Jugendbande "Los bacanes", und bis zur "quinta"(5. Straße) hoch zu begleiten. Wir sind froh um diesen Schutz, denn mittlerweile ist es weit nach Mitternacht und die Chance heil aus diesem brodelnden Pulverfaß von Leben und Gewalt zu kommen ist nicht besonders hoch. Während wir Richtung "quinta" gehen, lausche ich dem Salsa, der immer leiser wird und vom Alltag erzählt, denke an diesen norddeutschen Endvierziger mit seiner gutgehenden Anwaltspraxis, der stellvertretend für viele herhalten muß. Fast wünschte ich, er wäre jetzt hier, alleine in diesem von Gott und der Welt vergessenen Viertel.

 

Die Jungs die uns begleiten singen den Salsa weiter, der lief als wir aufbrachen:

 

Oigo el llanto que atraviesa el espacio

Para llegar a Dios.

Es el llanto de los niños que sufren

Y lloran de terror.

Es el llanto de las madres que tiemblan

Con desesperación.

Es el llanto,

Es el llanto de Dios.

Violencia, maldita violencia,

?Por qué te empeñas en teñir de sangre

La tierra de Dios?

?Por qué no dejas que en el campo nazca

Nueva floración?

Violencia, ¿por qué no permites que reine la pay,

que reine el amor,

Que puedan los niños dormir en su cuna

Sonriendo de amor?

Violencia ¿por qué no permites que reine la pay?

Es el llanto de Dios,

Es el llanto de Dios.

Es el llanto de una madre

Porque su hijo perdió.

Es el llanto del Supremo

Que en el calvario murió.

Si no existiera la violencia

Todo sería mejor,

Llora como lloró

Nadie debe de llorar...

¡Violencia! ¡Violencia!

¡Violencia! ¡Violencia!

Tú que todo lo destruzes,

Anda z dime la rayón.

Es el llanto del Supremo

Porqué su pueblo perdió.Es el llanto del Señor,

Es el llanto del Señor.

Llora como el lloró,

Nadie debe de llorar.

 

 


 

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7. Mai 2008 3 07 /05 /Mai /2008 14:15

Der Begriff  "Los Desechables" fehlt im Wörterbuch, schlägt man jedoch unter dem Verb "desechar" nach, liest man folgendes: Wertloses wegwerfen, zum Ausschuß werfen.

 

"Los Desechables" sind Vogelfreie der modernen Zeit, ohne Rechte. "Los Desechables" sind das Produkt dieser sozialen Zerrüttung welche durch alle Städte des Landes streift und immer schlimmer wird durch die liberale Politik nach Gringo Vorbild der jetzigen Regierung unter Cesar Gaviria, der die Politik die die USA in die wohl größte Krise ihrer Geschichte brachte, hier als Wundermittel zu verkaufen sucht.

 

Die Angst ist der ständige Begleiter dieser Menschen, denen von der Gesellschaft jegliche Existenzberechtigung abgesprochen wird. Sie werden geprügelt, beleidigt, umgebracht. Polizisten machen sich einen Spaß, indem sie nachts diese entwürdigten Menschen aufsuchen und sie mit ihren Schlagstöcken traktieren.

 

"Los Desechables" wandern unermüdlich durch die Stadt auf der Suche nach "Recycling-Material" im Müll derer, die mehr Glück im Leben haben. Der Arbeitstag der "Los Desechables" ist hart, beginnt um 5 Uhr morgens und endet um 11 Uhr nachts. Immer am Wandern mit ihrem übergroßen Sammelsack auf dem Rücken, am Suchen, am Aufpassen, um nicht irgendwo in eine für sie gefährliche oder entwürdigende Situation rein zulaufen. Ausruhen können sie sich auf ihrer Wanderung nur an entlegenen Ecken, andernorts ist meist innerhalb weniger Minuten die Polizei da und prügelt sie fort.

 

Viele von Ihnen waren in "clinicas de reposo", wo man sie -wie es offiziell heißt- von ihrer Verrücktheit durch Elektroschocks heilen wollte und nur erreichte, daß sie ihr Gedächtnis verloren.

 

Ein Großteil dieser entmenschlichten, unermüdlichen Wanderer der Großstadt hatten mal alles in ihrem Leben. Es waren Frauen und Männer mit Familie und Arbeit. Nicht wenige sind gebildet, haben ein Universitätsstudium, sprechen fließend Englisch, können sachlich diskutieren, sind belesen von Sartre über Kant bis Plato.

 

Doch die Drogensucht hat sie ruiniert, das Teufelsgift "Basuco"  hat sie in seine Krallen genommen, zum Sklaven gemacht und entmündigt.

 

Es fängt schleichend an, zuerst Probleme mit der Familie, Verlust der Arbeit. Dann verkauft man nach und nach die ganze Einrichtung des Hauses und der Mitbewohner. Denn die "Sehn-Sucht" nach diesem Gift ist gräßlich, man will zwar nicht aber MUSS. Man fängt an zu stehlen, geht ab und zu auf eine Baustelle arbeiten, kauft sich Basuco, obgleich man sich mit dem Tagelohn wieder mal eine sättigende Mahlzeit für die Familie besorgen wollte.

 

Aus kleinen Gelegenheitsdiebstählen entwickelt man sich nach und nach zum Kriminellen, der am Ende bereits für 5 000 Pesos (ca. 10.- DM) einen Mordauftrag erledigt. Doch das "Basuco" lähmt und zerstört immer mehr, die Familie trennte sich längst vom "Basucero" und schließlich taugt man für nichts mehr und wird zu einem der "Los Desechables", denen man noch vor einiger Zeit selber aus Spaß das Leben zur Hölle gemacht hatte.

 

Sah man früher selber verächtlich auf die armen Schweine die sich ihre Nahrung im Müll suchen und gleich aus dem Müllsack essen, findet man sich nun selber als solcher wieder. Durch das Papier sammeln usw. verdient man zu wenig um sich Nahrung und Sucht zu finanzieren, bekommt man doch für ein Kg. Papier ca. 40 Pesos (ca. 0,10 DM) und hat man an einem Tag 15 Kg. gesammelt, dann ist dies viel.

 

Allzu oft kann man sich nicht einmal mehr das "Basuco" beschaffen, begnügt sich mit den Resten von Lösungsmitteln, Schusterleim usw. die man im Abfall findet. Das Übel bei den Lösungsmitteln jedoch ist das Erbrechen. Erbrechen heißt Nahrungsverlust, so kratzt man das erbrochene gleich wieder zusammen um es erneut herunter zu würgen, wobei man es allzuoft noch gegen die hungernden, in der Stadt herumstreifenden Strassenköter verteidigen muß.

 

Längst hat man sich an den ein wenig süßen Abfallgeruch gewöhnt, den man selbst nach einem Bad im schmutzigen "Rio Cali" nicht los wird. Ebenso gewöhnte man sich daran in einer Erdhöhle am Fluß, unter einer Brücke oder in einer unbewachten, leeren Grabgruft auf einem der Friedhöfe zu schlafen. Unauffindbar sein entscheidet jede Nacht über Leben und Tod!

 

Die Nacht gehört den Paramilitärs, der "mano negra",  den "Komitees" die sich für eine soziale Säuberung der Städte mit der Waffe einsetzen. Allzuoft sieht die Polizei weg, wenn sie auftauchen, kollaboriert mit ihnen oder ist selbst Freizeitmitglied. Beliebt ist der Einsatz zu zweit auf dem Motorrad, man fährt die bekannten Schlafplätze der "Los Desechables" ab und legt jeden um, der mit Lumpen oder Papier zugedeckt schläft. Die Schüsse locken keinen auf die Straße, man weiß ja, wer da in der Nähe umgebracht wird. Nur ganz selten setzen sich die Besucher der "tabernas" für die Todgeweihten ein, wenn sie das Hämmern der Maschinenpistolen, das Schreien in der Nähe des Fußballstadiums "Pasqual Guerrero" hören.

 

Der Tod eines "Los Desechables"  findet höchstens Platz in den Medien, wenn es sich um ein Massaker handelt, oder wie in "Barranquilla", wo pervertierte Angestellte der "Universidad Libre" ein gewinnbringendes Geschäft mit ihnen machten.

 

Da Medizinstudenten sich die Leichen für Sezierungen selber besorgen müssen, baute ein an der Universität beschäftigter Gewerkschafter (Eugenio Castro Ariza) ein makabres, gut organisiertes Geschäft mit mindestens 14 Angestellten auf. Einige waren darauf spezialisiert, sich die geeigneten zukünftigen Sezierteile unter den "Los Desechables" der Stadt auszusuchen. Andere lockten sie dann in die Uni und knallten ihnen einen schweren Stock etwa in der Art über den Schädel, wie der Bauer seine Kaninchen fürs Schlachten tötet, zusätzlich mit einem Fangschuß zur Sicherheit. Daraufhin wurden sie im Kühlraum gelagert und die Studenten konnten ihren Bedarf bestellen. So brachte ein "Los Desechables" in Teilen verkauft bis zu 170 000.- Pesos (ca. 340.- DM).

 

Die ganze Sache wurde am 29. Feb. 92 aufgedeckt, weil eines der Opfer für tot gehalten wurde und aus dem Kühlraum fliehen konnte. Wie durch ein Wunder überlebte dieses Opfer den Keulenschlag und den Fangschuß, schleppte sich nach einigen Stunden ausharren im Kühlraum aus der Uni raus und suchte Hilfe. Doch Oscar Hernandez brauchte Stunden bis ihm einer der Polizisten glaubte. Bei der Durchsuchung der "Universidad Libre" fand die Polizei 14 Leichen und Teile von mindestens 40 weiteren.

 

"Los Desechables", lebend gelten sie nichts und tot lächerliche 170 000.- Pesos.

 

Mit einem dieser unermüdlichen Großstadtwanderer habe ich eine besondere Beziehung. Wir lernten uns kennen, als ich mal meinen Hausschlüssel vergaß und einige Stunden warten mußte bis einer meiner Mitbewohner nach Hause kam. Er saß mit seinem großen, schweren Sack an der Ecke unseres Hauses und wir fingen ein Gespräch an. Mit der Zeit entstand ein vertrauensvolles Verhältnis zwischen uns.

 

Fernando wird noch dieses Jahr (1992) 48 Jahre alt, hat seine mittlerweile studierenden Kinder und seine Frau seit Jahren nicht mehr gesehen, denn er schämt sich, sich so in Lumpen und stinkend vor ihnen zu zeigen.

 

Seine Familie trennte sich von ihm, als er im "Hospital Departamental" mit vier Schüssen im Körper ums überleben kämpfte. Die tägliche Angst, ob der Vater und Ehemann gesund von seiner "Arbeit" mit dem Revolver zurückkommt hat die ganze Familie nervlich fertig gemacht.

 

Auch Fernando kam durch das "Basuco" in diese unwürdige Lebenssituation. Da er den Arbeitsplatz verloren hatte und für seine zwei Kinder eine bessere Zukunft wollte, fing er an, kriminelle Geschäfte zu machen. Er war einer der mutigsten und tollkühnsten Typen in diesem Geschäft bis ein gekaufter "pistoloco" ihn mit vier Kugeln zum gehbehinderten Krüppel machte.

 

Niemand in der Klinik sagte ihm, daß er den Metalleinsatz in seinem Bein nach einem Jahr wieder entfernen lassen muß, so ist das Ding heute noch drin und verursacht ihm gräßliche Schmerzen, da einige Schrauben inzwischen locker sind.

 

Durch befreundete Ärzte des Gesundheitspostens im "Barrio El Retiro" bekam ich die Gelegenheit alle nötigen Untersuchungen für Fernando kostenlos zu erhalten. Zu diesem Zeitpunkt ahnte ich noch nicht, welche menschenunwürdigen Situationen und Repressionen wir beide erleben müssen.

 

Allein kam Fernando trotz ärztlichem Attest nirgends rein, weder zum Röntgen noch zu einer ersten ärztlichen Untersuchung im "Hospital Departamental" und selbst im Selbstbedienungsrestaurant wurde ihm verweigert für uns einen "tinto" (schwarzer Kaffee) zu kaufen, obgleich er das Geld dazu in der Hand hatte.

Allein meine Gegenwart reichte aus;  das röntgen seines Beines war in einer halben Stunde erledigt und Fernando wurde plötzlich mit Señor angesprochen. Da war plötzlich eine ärztliche Untersuchung in nur zwei Stunden Wartezeit zu haben, während Fernando alleine ganze zwei Tage von 5 Uhr morgens bis 6 Uhr abends erfolglos gewartet hatte. Typisch waren dann die Bemerkungen des Arztes, welcher erstaunt fragte, warum er denn nicht früher gekommen sei. Dieser Mann in weiß, welcher über die sozialen Bedingungen in seinem Lande keine Ahnung hat, gab sich erstaunt, als ich ihm provokativ schilderte wie es den "Los Desechables" geht, wenn sie ihr in der Verfassung garantiertes Recht auf ärztliche Versorgung geltend machen wollen, ganz zu schweigen davon, wie sich jemand 200 000.- Pesos (ca. 400.- DM ) für eine wichtige Operation ersparen kann, der täglich höchstens 800.- Pesos (ca. 1.60 DM ) verdient?

 

Anfangs war es schwer für mich all die Repressionen, sobald ich mit Fernando zusammen wahr, gelassen zu ertragen, ich reagierte mit Magenschmerzen und Herausforderungen, konnte nicht verstehen, wie der einst so stolze und mutige Unterweltler, der in Cali eine Legende ist, dies so gelassen ertragen konnte.

 

Mit der Zeit lernte ich in seinen Augen zu lesen, seinen stahlblauen Augen, die immer noch sichtbar machen, welche Persönlichkeit und Kämpfer dieser von der Gesellschaft geprügelte Mann trotz allem noch ist. Ein Glück für die die ihn treten, daß Fernando nun an die Gewaltlosigkeit glaubt. Trotz seines behinderten Beines wäre es für diesen schmächtigen, schnellen und starken, in vielen Kämpfen erprobten "Paria der Gesellschaft" leicht mit diesem "Pack" aufzuräumen.

 

Davon bekomme ich immer wieder eine Ahnung, wenn er mich in die "olla" begleitet. Die meisten begegnen ihm mit Respekt, helfen ihm seinen Sack zu tragen und die Tatsache, daß er sich mit mir "Privilegiertem" abgibt ist die beste Versicherung für meine Unversehrtheit.

 

Durch Fernando bekomme ich immer die Informationen, welche in der täglichen Presse fehlen. Über dieses Wochenende 15 "Los Desechables" umgebracht, letzte Nacht sieben an einem einzigen Schlafplatz. Offiziell hat Cali wöchentlich 60 Mordopfer, doch allein die Berichte von Fernando kommen manchmal in die Nähe dieser Zahl.

 

Fernando hat eine sehr minimale Bildung, besuchte die Schule bis zum ersten "bachillerato". Durch die Jahre seines entwürdigenden Daseins, fing er an, sich selber weiterzubilden. Er las alles was er im Abfall auftreiben konnte, Zeitungen, Bücher, die Arbeiten von Studenten. Seit er mal was von Ghandi gelesen hat, ist für ihn Gewaltlosigkeit zum höchsten Prinzip geworden und er spricht über "Satygraha" als hätte er viele schlaue Vorlesungen besucht. Und das Besondere, Fernando konsumiert kein "Basuco" mehr, höchstens ab und zu mal Marihuana.

 

Denn er möchte raus aus diesem Leben, schuftet wie ein Tier und doch reicht es nicht für mehr als den Hunger ein wenig zu stillen. Fernando träumt davon, sich für 10.000.- Pesos eine Schuhputzausrüstung kaufen zu können oder auf dem Schwarzmarkt eine Stange Zigaretten für 4.000.- Pesos  zum Wiederverkauf. Kann er am Tag nur 10 Paar Schuhe putzen, hat er 3.000.- Pesos. Mit dem Gewinn könnte er sich in kurzer Zeit ein Zimmer, saubere Kleider leisten und vielleicht würde ihn dann seine Familie wieder aufnehmen.

 

Es war bei einer Diskussion vor unserer Haustüre über Ghandis Ideen, als die kultivierte Nachbarin, die eine Tochter in Genf hat und ein Jahr dort lebte, die Polizei anrief, weil sie sich durch uns beide bedroht fühlte. Seit dem spricht diese Nachbarin kein Wort mehr mit mir, während sie vorher meinte, eine besondere Beziehung zu mir zu haben, da ich Staatsbürger des Landes bin, wo ihr Töchterchen glücklich verheiratet ist, und jedes Jahr zu Besuch kommt, über die anständige Schweiz Loblieder anstimmt und über Kolumbien und deren Einwohner spricht, als wären hier alle kriminell und schmutzig.

 

Sobald diese "rica suiza" im Barrio auftaucht, spricht es sich herum bei den "Los Desechables". Denn dann sind für einige Wochen die Abfallsäcke voller Leckerbissen und anderem begehrten Zeugs. Wenn die junge, gutsituierte Dame mal gut aufgelegt ist, dann sagt sie zu Fernando und Co., daß Essen im Abfallsack sei. Die Idee, kurz mal ihre Haustüre aufzumachen und die Nahrung unbeschmutzt einem Hungernden zu übergeben, kommt ihr nicht. Mit einem Lächeln schaut sie dann aus dem gut geschlossenen Fenster zu, wie die "Los Desechables" Nahrung zwischen Damenbinden und Papierwindeln heraus klauben.

 

Cali, 2 de octubre de 1992

 

 

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7. Mai 2008 3 07 /05 /Mai /2008 13:55
 Es war irgendwann mal  im Oktober 1989 als die ganze Sache mit mir anfing. Wenn es stimmt, dass auf der anderen Seite der Erde das Wetter entgegengesetzt ist, dann war dort Beginn des Sommers. Dies bedeutet in meinem kleinen Fischernest mitten in den Mangroven endlich ein bisschen weniger Luftfeuchtigkeit und einwenig mehr Geld durch Touristen die weniger arm als wir waren.

Meine Mutter arbeitete zu dieser Zeit in einer der zahllosen Fischfabriken, deren Besitzer ein "gringo" war. Ein typischer 3. Welt Job, viel Arbeit, kaum Geld, du schaffst an für die Konten der reichen Ausländer und korrupten Politiker deines Landes. Man stelle sich vor, Du bearbeitest Lebensmittel und hast vor Hunger Magenkrämpfe. Die Vorarbeiter passen nur auf, dass ja nichts vom Fisch gestohlen werden konnte. Selbst bei einem Fischkopf gab es Probleme was meist bedeutete, dass du fristlos entlassen wurdest. Eben gerade dieser Vorarbeiter in der Fabrik war scharf auf meine Mutter und er versuchte alles um sie flachzulegen. Da es nicht klappte behandelte er sie wie Dreck. Meine Mutter war damals eine echt schöne Frau. Groß gewachsen, schlank, straffe Brüste, knackiger Po und einer samt glänzenden Hautfarbe wie dunkle Schokolade, eben so richtig zum reinbeissen. Noch Heute mit 40 sticht sie viele jüngere Mädels aus mit ihrem aussehen.

Eben an einem dieser Oktobertage, ich nehme an es war ein Samstagabend oder Sonntag Nachmittag, ging Mutter wie öfters an die Promenade am Meer in eine der vielen Diskotheken um fröhlich zu sein, zu lachen zu tanzen und die Unwürde der Armut, den Hunger, den Alltags zu vergessen.  Die Gute ahnte nicht, dass dieser Abend der Beginn einiger der härtesten Jahre ihres Lebens werden würde.

Ich nehme an, sie sass dort mit Freunden vor einer Flasche Rum und Cola, mit Freunden die wie sie in einer Bretterbude lebten und nach und nach Mauern aus Ziegelsteinen hochzogen, in der Hoffnung, möglichst bald ein bescheidenes Haus zu haben mit Klo statt einem Loch im Garten, mit fließend Wasser statt einiger alten, rostigen Tonnen die, falls es Wasser gab, alle par Tage mit Wasser gefüllt wurden. Sicher hat sie viel getanzt, diesen alten "Salsa brava" der in der Gosse entstand, mit seinen Texten die aus ihrem Herzen kamen als wären es ihre und ihrer Freunde Worte.
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6. Mai 2008 2 06 /05 /Mai /2008 12:37

Also um es kurz zu machen, an diesem Abend sollte meine Mutter meinen Vater besser kennen lernen. Sie kannten sich schon seit ewig, wie sich das ganze Fischernest seit ewig kennt. Sie wusste, dass er eine Tankstelle besitzt und seit Jahren sah sie ihn dort Benzin verkaufen wenn sie mit ihrem Onkel vor dem Fischen den Zweitakter des Kanus soweit volltankte, dass es gerade für die Fahrt reichte.

Es war ein hübscher Kerl, dunkel wie sie und feinen, beinahe zierlichen Gesichtszügen. Man wusste nicht genau, war er nun verheiratet oder nicht. Es gab Leute die munkelten, dass er es war. Er selber betonte immer vehement, dass er ledig sei, auf der Suche nach einer, die zu ihm passe. Meine Mutter glaubte ihm dies, denn würde er sonst Woche für Woche alleine in die Diskothek kommen? Da er Besitzer der einzigen Tankstelle im Fischerdorf war, war er begehrt weil begütert. Er konnte ohne Probleme die heißesten Bräute abschleppen was er in vollen Zügen auch tat. Alle hatten Hoffnung mit ihm das große Los zu ziehen. Alle bis auf meine Mutter. Sie machte sich nicht einmal Gedanken über ihn, begnügte sich ihn anzuschauen. Denn so ein Kerl würde sich nie und nimmer mit einer wie ihr einlassen. Einer ohne Ausbildung, ohne richtiges Haus, ohne Wohlstand.

Doch meine Mutter irrte sich und hatte Recht!

Auf einmal stand er da in all seiner Pracht. Sein vertrauenserweckendes lächeln, der Glanz seiner dunklen Augen schien nur für sie zu sein. Höflich bat er sie zu einem tanz, noch einem und noch vielen zwischen den endlosen Colas mit immer mehr "libre" und weniger Cola. Irgendwann an diesem Abend muss er ihr gesagt haben, dass er schon lange auf sie Aufmerksam geworden sei, dass sie schön sei, dass er von ihr träume. Cola, Worte und Sehnsucht meiner Mutter taten dass ihre und Mama verschwand zum ersten mal mit einem Mann wie üblich in in diesem Fischernest in einer Absteige. Weder sie noch ich wissen genau, ob dies meine Nacht war, denn es waren einige Nächte mehr, die sie mit Hoffnung auf ein besseres leben und schlussendlich mit mir füllten.

Wie allgemein üblich in solchen Situationen kam es nach relativ kurzer Zeit des Glücks zu einer Ausprache und der Tankstellenbesitzer verliess fluchtartig Mutter und mich. Er war tatsächlich verheiratet der vertrauenserweckende Kerl mit seiner Tankstelle und Mutter sah ihn nur noch von weitem oder vom Kanu aus beim tanken.

Voller Scham sass meine Mutter in solchen Augenblicken fast unsichtbar im Kanu, wagte nicht den Kopf zu heben um ihren Tankstellenbesitzer anzusehen. Manchmal gelang es ihr ihn aus den Augenwinkeln zu erhaschen und beim Anblick dieses lächelns und dieser Augen erkannte sie, dass es nicht mehr ihr lächeln und nicht mehr ihr Augenglanz war, er nahm sie in keiner Weise mehr war. Herzschmerz und Sehnsucht nach vergangenen Tagen erweckten jedesmal beim auftanken des Zweitakters einen hässlichen Schmerz in Mutters Seele. Doch noch wagte sie nicht zu Hause zu erzählen, dass sie geschwängert wurde und sie fürchtete sich vor dem Tag wo es sichtbar werden würde.

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Über Diesen Blog

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