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9. Mai 2008 5 09 /05 /Mai /2008 14:24

 

... "Ich glaube man hat nicht berücksichtigt, wie weit die politische und gesellschaftliche Situation ein vorgegebener Nährboden für die Kultivierung des Drogenhandels geworden ist, in einem großen, glücklosen Land wie Kolumbien, das Jahrhunderte eines Steinzeit-Feudalismus, dreißig Jahre unbefriedeter Kleinkriege und eine ganze Geschichte von Regierungen ohne Volk hinter sich hat ..."
(Gabriel Garcia Marquez in der FAZ v. 08.11.1989)


Die Welt schickt sich an, eines der perversesten Feste zu feiern - die Fünfhundertjahrfeier der Entdeckung Amerikas. Als Kolumbus sich in der Nacht vom 6. zum 7. Oktober 1492 entschloss, den Kurs nicht zu ändern, sondern den Papageienschwärmen nach Südwesten zu folgen, hatte der Mann wohl keine Ahnung, daß mit seiner Entdeckung der "Neuen Welt" eines der größten Verbrechen an der Menschheit seinen Anfang nahm. Als Kolumbus den neuen Boden betrat, lebten 70 Millionen Menschen der verschiedensten Kulturen auf diesem Kontinent. Hundertfünfzig Jahre später waren es nur noch 3,5 Millionen.

An dieser lebensvernichtenden Situation hat sich bis heute nichts geändert. Neben den Eingeborenen sind es heute die Kleinbauern und Randgruppen der Gesellschaft, die im Wege stehen. Falls sie Land besitzen und ihre Rechte fordern, werden paramilitärische Gruppen auf sie angesetzt, die die Interessen der Großgrundbesitzer durchsetzen. Diese halten auf dem blutig erworbenen Boden Rinder für das Schnellimbißfutter der Europäer und Gringos, oder bauen Soja für den Export als Viehfutter in Europas Ställen an. Zur gleichen Zeit leidet die Mehrheit der Bevölkerung im eigenen Lande an Unterernährung und viele verhungern. Dies gehört in der Großstadt zum Alltag.

Die Verbrechen gehen weiter, nur trägt die Schuld nicht mehr nur die heilige Kirche, sondern auch die wirtschaftliche und moralische Skrupellosigkeit einiger eingewanderter Familien und der Mächtigen der Welt. Die Methoden sind subtiler geworden, die Ergebnisse sind die gleichen geblieben: Ausplünderung, Verarmung, Hunger, Verzweiflung, Tod. Die Welt beginnt fröhlich die Entdeckung Amerikas zu feiern, sie feiert auf dem Trümmerfeld, das die Konquistadoren hinterlassen haben. Gegenstimmen gibt es kaum. Wenn doch, dann werden ihre Urheber dort als unverbesserliche Spinner belächelt. Hier werden sie eingeschüchtert, und wenn das nichts hilft umgebracht. Die schon fünfhundert Jahre andauernde Zerstörung der bodenständigen Kulturen und die Verweigerung jeglicher Bildung tragen traurige Früchte: Alkoholismus als Volksepidemie und überbordende Gewalt sind nur die auffälligsten Zeichen dafür. Daran wird sich auch zukünftig kaum etwas ändern, ein ungebildetes Volk läßt sich leichter in Knechtschaft halten und ausplündern. Die Unbildung der Bevölkerung, die keine Ahnung von ihren Rechten hat, garantiert der industrialisierten Welt weiterhin den sorglosen Umgang mit den natürlichen Ressourcen und den Genuß billiger Leckerbissen in Form von Ananas, Kaffee, "Badeurlaubkultursafariesalsareisen" und so weiter. Daß die Schattenseite der Drogenanbau und Handel sind, gesteht man sich als wohlhabender Europäer nicht ein. Im Gegenteil, man sucht einen Schuldigen, und weltweit hat man sich auf das von allen Seiten gebeutelte Kolumbien eingeschossen. Haben Sie jedoch gewußt, daß von jeder erwirtschafteten Drogen-DM ganze 25 Pfennig in eine kolumbianische Tasche fließen, und daß das Hauptgeschäft Bankiers, Politiker, usw. anderer Nationen machen?

Wie würde wohl Familie "Bundesbürger" handeln, wenn sie durch die Kultivierung von Bananen, Ananas, Kaffee und so weiter zu wenig zum Überleben verdienen würde? Auch sie würde mit Sicherheit den Anbau von Kokain und Marihuana der Prostitution ihrer Kinder vorziehen. Glücklich, wer diese Alternative überhaupt hat, befinden sich doch 65 Prozent des bebauten Landes in den Händen von nur 4 Prozent Großgrundbesitzern, während sich die Massen der Campesinos mit den restlichen 35 Prozent begnügen müssen.

Wer fragt weiter nach den Folgen, die der Drogenanbau für dieses Land selbst hat? Vor allem im städtischen Bereich sieht sich Kolumbien mit einem raschen Anstieg des Kokainverbrauchs konfrontiert. Insbesondere in den Armenvierteln gibt es Hunderttausende von Jugendliche, die regelmäßig mit Tabak vermischte Kokapaste (Basuco) rauchen, eine aufgrund der hochgiftigen Verunreinigungen des Kokainzwischenprodukts höchst gesundheitsschädigende Praxis (laut Shannon -1988- gab es Mitte der 80er Jahre in Kolumbien rund 600 000 Basuco-Raucher).

Der größte Teil der Menschheit lebt unter menschenunwürdigen Bedingungen in der sogenannten dritten Welt. Wann beginnt man diese Mehrheit als gleichwertiger Partner zu behandeln, statt sie mit erbärmlichen Almosen abzuspeisen, wie es zum Beispiel die Schweiz getan hat, als sie die 700-Jahre-Schweiz-Feierlichkeiten zum Anlaß nahm, um 700 Milliönchen an die dritte Welt zu verschenken (ich schäme mich Schweizer zu sein).

Wir stehen längst über dem Abgrund und mit dem Rücken zur Zukunft, und ich fürchte, es wird schlimmer. Der Kommunismus ist gescheitert, die übermächtige EG bekommt eine Monopolstellung, der Kapitalismus tanzt weiter fröhlich Richtung Steinzeit. Wer es zuerst bezahlt, das ist die dritte Welt.

Es wäre an der Zeit, daß man in der industrialisierten Welt an Wiedergutmachung zu denken beginnt, auch wenn es kaum etwas wieder gut zu machen gibt. Immerhin, man könnte Schlimmeres verhüten, Aufbau statt Ausbeutung betreiben. Die imaginären Linien, die man Grenzen nennt, haben keine Zukunft. Alle brauchen wir einander. Wie sähe es heute wohl in Mitteleuropa aus, wenn es nicht durch fremdes Kulturgut bereichert worden wäre? Erbärmlich, daß man nun gerade Menschen dieser Kulturen zu hassen beginnt, daß sich Politiker zu Sprüchen wie: "Heute schenken wir ihnen ein Fahrrad, morgen rauben sie uns unsere Töchter" herablassen. Erinnern wir uns an Vergangenes. Ich bin sicher, es kann Achtung für die Kulturen entstehen, die jetzt Europa brauchen wie Europa sie gebraucht hat und auch weiterhin braucht.


© Willi Tell 1995 (2.Überarbeitung)

 

 

 

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